Conrad von Vietinghoff, der Vater
Conrad von Vietinghoff, der Vater ![]() (Schreibweise auch Konrad bzw. Adelbert) – Geboren: 29.12.1870 in Salisburg in Livland, heute Mazsalaca im Nord-Westen Lettlands (nach altem russischem Kalender am 17. Dezember geboren). – Gestorben: 11.1.1957 in Zürich, Schweiz Vorwort Ein außergewöhnlicher Mensch mit unverwechselbaren Fähigkeiten, Schwächen und Neigungen in Zeiten allgemeinen Wertewandels. Anfangs noch verhaftet in einer festen, aber überholten Ordnung mit der Bürde von 15 Generationen dokumentierter Ahnen, löste er sich im Laufe des Lebens schrittweise von der Jahrhunderte langen, einengenden Tradition, die aus heutiger Sicht teils schwer nachzuvollziehen, teils sogar absurd ist. Trotz Interesse am Weltgeschehen und eines überschaubaren Freundeskreises, lebte er nach dem Tod seiner Frau recht zurückgezogen. Ob und wie weit er seine gleichgeschlechtlichen Gefühle physisch auslebte, ist nicht nachzuweisen; vermutlich waren sie jedoch für die ganze Familie irritierend und sogar belastend. Den Sinn für eine stille und konsequente künstlerische Vorgehensweise, die er für seinen musikalischen Weg wählte, gab er seinem Sohn Egon weiter. Ebenso den damit einhergehenden Schatten einer mehr oder weniger starken gesellschaftlichen Absonderung und den teils freiwilligen Verzicht auf öffentliche Anerkennung. |
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Conrads Eltern ![]() ![]() Baron Arnold Julius v. Vietinghoff v. Riesch – Geboren: 18. 11. 1833 in Wolmar in Livland (Valmiera in Lettland) – Gestorben: 29. 123. 1918 in Riga, Livland (Lettland) Baronin Helene v. Vietinghoff, geb. Transehe-Roseneck – Geboren: 29. 10.1837 in Alt-Schwaneburg, Livland – Gestorben: 24. 7. 1923 in Neschwitz, Sachsen |
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Übersicht ![]() 2) Conrad geht seinen eigenen Weg 3) Hommagen an Conrad (zum 70. und zum 80. Geburtstag) 4) Erinnerungen seines Arztes 5) Erinnerungen seiner Schwiegertochter Liane 6) Homo... 7) Conrad als Inspiration für die Romane von Marguerite Yourcenar 8) "Alexis oder der vergebliche Kampf" 9) "Der Fangschuss" 10) "Liebesläufe" 11) Weitere Bemerkungen und Berichtigungen |
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1 - Conrad und die Vietinghoffs ![]() Zeitweise (1346-1561) war das Land ein unabhängiger Ordensstaat und Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dann kam es unter polnische bzw. dänische, später unter schwedische und ab 1710 unter russische Hoheit. Einige wanderten im Laufe der Jahrhunderte vom Baltikum aus nach Skandinavien (hauptsächlich nach Schweden) sowie nach Polen aus und ins Innere Russlands oder wieder zurück in deutsche Gebiete im Süden und von dort aus teilweise auch nach Österreich. |
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![]() Bei der Gründung der Republiken Lettland und Estland (1918/1920) verschwand der Name von der Landkarte, denn Livland (rot) wurde geteilt. Dessen nördliches Drittel einschließlich der Insel Ösel (rot, heute Saaremaa) bilden zusammen mit dem ehemaligen russischen Gouvernement Estland (grün) das heutige freie Estland. Die südlichen 2/3 Livlands (rot) plus die ehemalige Region Kurland (gelb) bilden das heutige Lettland. Der schwarze Punkt zeigt die lettische Hauptstadt Riga, der weiße die ungefähre Lage von Salisburg (Mazsalaca) im Nordwesten Lettlands. Die baltischen Vietinghoffs folgten der Reformation, während der niederrheinische, nicht ausgewanderte Stamm mit Namen v.Vittinghoff genannt Schell zu Schellenberg katholisch blieb. Stammsitz war Schloss Schellenberg (Essen-Rellinghausen). Dieser Stamm ist in der männlichen Linie erst 1993 erloschen. |
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![]() ![]() Sie haben europäische Geschichte mitgestaltet und mitgelitten. Vom Fähnrich bis zum General waren sie zusammen mit vielen anderen, oft verwandten deutsch-baltischen Geschlechtern während der vergangenen Jahrhunderte auf den Schlachtfeldern aller entscheidenden Kriege auf dem Kontinent – mehrfach sogar auf beiden Seiten verfeindeter Parteien gleichzeitig. |
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![]() Ein Familienmitglied ging 1905 in der Seeschlacht bei Tsushima gegen die Japaner als russischer Schiffskommandant unter und eines war kaiserlich osmanischer Major in Konstantinopel. Ein anderer Vietinghoff unterzeichnete 1945 als Generaloberst auf eigene Initiative die deutsche Kapitulation in Italien schon eine Woche vor der bedingungslosen Kapitulation aller Truppen, wohl auch um eine mögliche Bombardierung Roms zu verhindern, während auf Seiten der USA ein weiterer Vietinghoff, Sohn einer amerikanischen Mutter, zwecks Übersetzung gegenüberstand. |
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![]() Als Gutsbesitzer und Abgeordnete waren sie verantwortlich für Land- und Forstwirtschaft sowie für Infrastruktur und soziale Belange ganzer Regionen und natürlich für die Bewirtschaftung ihrer Güter. Besonders eindrucksvoll ist besagter Otto Hermann von Vietinghoff (1722-1792). Er begann als russischer Offizier und wurde schließlich Direktor des medizinischen Kollegiums, was der Position eines russischen Gesundheitsministers gleichkam. Da ihm außerdem mehrere Fabriken und zeitweise 30 Rittergüter gehörten, wurde er (inoffiziell) Halbkönig von Livland genannt. Er stiftete der Stadt Riga aus eigener Tasche das erste Theater der Stadt, das lange zu den besten deutschsprachigen Bühnen zählte, und unterhielt dort auch ein Orchester. (heute Richard Wagner-Straße 4, siehe www.wagnersaal.com). Seine Marmorbüste von dem damals bedeutendsten Porträtbildhauer Europas, Jean-Antoine Houdon (1741-1828) steht heute im Bode-Museum zu Berlin. Dieser Künstler schuf auch Bildnisse von Gluck, Molière, Rousseau, Voltaire, Diderot, Washington, Franklin, Jefferson, Napoleon und Katharina d.Gr. Otto Hermann ist jedoch kein direkter Vorfahre von Conrad und Egon von Vietinghoff. |
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![]() die Baronin Juliane von Krüdener (1764-1824): Schriftstellerin, "Vertraute" des Zaren und dessen Gesandte am Wiener Kongress, Mutter der Heiligen Allianz gegen Napoleon, das Sonnenweib gegen den Antichristen. Sie war ein paar Jahre mit dem Schriftsteller Jean Paul befreundet; außerdem löste die exzentrische Dame mit ihrem Roman Valérie in Europa eine Modewelle aus. Ihr im Jahre 1786 von der berühmten Angelika Kauffmann (1741-1807) geschaffenes Porträt hängt im Louvre. Später führte sie in Basel und im Württembergischen eigenhändig Speisungen für die infolge der Napoleonischen Kriege Verarmten durch und bewegte die Volksmassen auch im Kanton Aargau so sehr durch mystisch-pietistische Reden bis sie da wie dort als zu subversiv ausgewiesen wurde. Später fiel sie beim Zaren in Ungnade und starb verarmt und zurückgezogen auf der Krim. |
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![]() Die schwedische Schriftstellerin, Rosa Fitinghoff (1872-1949), inspirierte Henrik Ibsen (1828-1906) als seine letzte Geliebte zu seinem letzten Werk Wenn wir Toten erwachen (1899). In Schweden, Russland und in den USA leben noch heute Familienmitglieder mit dieser angepassten Schreibweise des Namens. Alle erwähnten Namensträger sind keine direkten Vorfahren von Conrad und Egon von Vietinghoff. Seit dem 20. Jh. haben die Nachkommen aller Stämme und Linien vielfältige moderne Berufe in allen Bereichen der Gesellschaft und leben in vielen Ländern Europas sowie in Übersee, teilweise auch mit deren Staatsangehörigkeit. |
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2 - Conrad geht seinen eigenen Weg ![]() Er liest lieber das Neue Testament im Original auf Griechisch oder die Partituren der Symphonien von Beethoven und Brahms oder noch besser: er spielt sie mit seinen Cousinen achthändig auf den zwei Flügeln im elterlichen Schloss Salisburg! Denn die Konzertsäle in Riga und Reval (heute Tallinn, die Hauptstadt Estlands) sind weit weg und mit dem Pferdewagen schwer erreichbar – CD- und MP3-Player sind 1888 noch lange nicht erfunden... Schloss Salisburg kam über die mütterliche Linie (v.Völkersahm) in Vietinghoffschen Familienbesitz, hatte 62 Zimmer, wurde in der Revolution von 1905/1906 angezündet und war 25 Jahre lang eine Ruine. Nach der Renovierung von 1932 beherbergte es das Gymnasium. Lettische Einwohner bewahrten es 1944 vor der Sprengung durch die Deutsche Wehrmacht auf deren Rückzug. Seit 1977 befindet sich darin die Grundschule. Der Ort heißt lettisch Mazsalaca (mehr Infos dazu auf Wikipedia unter "Salisburg" oder "Mazsalaca"). |
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![]() ![]() Parallel dazu nimmt er Klavierunterricht und zieht des bekannten Musikpädagogen Oscar Raif wegen nach Berlin, wo er zum Studium der Musikgeschichte wechselt (1893-1899). Später sucht er in Rom einen Pianisten auf, um sein Spiel zu verbessern. |
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![]() Im deutsch-baltischen Adel herrschte das ungeschriebene Gesetz, dass eine Ehe nur dann als standesgemäß galt, wenn auch alle vorangegangenen Generationen beider Ehepartner schon standesgemäß geheiratet hatten. Für Conrad bedeutete dies, im Baltikum eine etwa gleichaltrige Baronesse zu finden, deren Vorfahren ebenfalls 15 Generationen lang diese Erwartung erfüllt hatten. |
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![]() ![]() Hier beginnt auch die von hoher gegenseitiger Wertschätzung gezeichnete Freundschaft mit dem auf den Tag genau sechs Jahre jüngeren Cellisten Pablo Casals. |
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![]() Nach 150 Jahren des Firmenbestehens (2003) waren mehr als 150.000 Instrumente gebaut worden. 1873 erfand Julius Blüthner den Aliquot-Flügel, der im oberen Mittelbereich eine 4. Saite pro Taste aufweist, welche im Oberton mitschwingt und dadurch den Klang reicher, farbiger und transparenter macht, besonders bei leisen Tönen. Das kam Conrads sensibler Musikinterpretation und seinem auffallend weichen Anschlag sehr entgegen. |
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![]() Zu seinem Glück bekommt Conrad sein Erbteil ausgezahlt, denn der Familiensitz Salisburg (zu Zeiten seines Großvaters mit einem Besitz von 26.000 ha Land) wird in der Russischen Revolution von 1905 zusammen mit rund 100 anderen Herrenhäusern verwüstet und bleibt 20 Jahre eine abgebrannte Ruine bevor es als Schule renoviert wird. Der allergrößte Teil des Besitzes wird in den folgenden Jahren enteignet. Bis 1945 haben alle seine Brüder und Neffen ihre Güter verloren. |
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![]() Von 1906 bis 1913 lebt er in Wiesbaden, wo er die Freundschaft mit dem jungen Komponisten und Dirigenten Carl Schuricht pflegt. Conrad hat höchste Ansprüche an sich selbst; in unermüdlicher Selbstschulung verbessert er seine Technik und vertieft sein Spiel. |
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![]() Noch einmal zieht ihn sein vorausahnendes Sensorium rechtzeitig in ein sichereres Land: 1913 siedelt er mit Frau und Kindern in die Schweiz nach Genf um. Als mehrsprachiger Idealist hilft er dort im Ersten Weltkrieg beim Roten Kreuz und muss – als vergeistigter Wandler zwischen den Welten nicht einzuordnen – ein Verfahren wegen eines ebenso grotesken wie hässlichen Spionageverdachts durchstehen: es hatte damals genügt, freiwillig die für internierte Deutsche ankommende Post zu bearbeiten – eine Nachbarin hatte ihn bei der Polizei angeschwärzt. |
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![]() Die 30 Jahre nach dem frühen Tod seiner Frau, Jeanne de Vietinghoff, lebt Conrad alleine, recht menschenscheu, beinahe asketisch in kleinen Wohnungen – versunken in Philosophie, Literatur und in der Welt der Töne. Er ist ein Idealist, Humanist, Pazifist, Vegetarier, strikter Gegner von Tierversuchen, von naiver Menschenkenntnis, rührend hilfsbereit, doch im Alltäglichen selbst etwas hilflos. |
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