Erinnerungen
Jeanne von Vietinghoff, die Mutter

 

Anekdoten

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Anekdoten

1. Der 6. Sinn
2. Der Reiskocher
3. Das Weihnachtsgeschenk
4. Bergidylle
5. Das Kolosseum von Rome
6. Die Teestunde
7. Die Sonnenfinsternis
8. Der Toaster
9. In einem Belgischen Restaurant
10. Wiedersehen mit Marcella
11. Die Gebrüder Piccard
12. Das imaginierte Familienfoto
13. Der Hungerstreik
14. Die letzten 3 Wochen
 

1 – Der 6. Sinn (ca. 1907-1910, 1921, 1924-1928)

Conrad und Egon von Vietinghoff Wenn Egon von Vietinghoff vom Sechsten Sinn sprach, dann bezog er sich auf seine eigenen Erfahrungen. Einmal auf diejenigen, welche er als meditativ arbeitender Künstler machte. Dann meinte er damit die Intuition, die ihn über visuelle Erlebnisse zu einer transzendentalen Sicht der Dinge führte.

Zum anderen wuchs in ihm anhand ungewöhnlicher Begebenheiten schon in frühen Jahren die Gewissheit der Existenz eines irrational funktionierenden Sinnesorgans. Darunter verstand er dann das Wahrnehmungsvermögen parapsychologischer Phänomene.

Vor dem Einschlafen kamen die Eltern an die Betten der Kinder, um "Gute Nacht" zu sagen. Es wurde ein Gebet gesprochen, an dessen Schluss die Namen derer aufgezählt wurden, welche vom Lieben Gott beschützt werden sollten. Eines Abends fügte der kleine Egon auch den Namen eines entfernten älteren Verwandten an, den er nur einige wenige Male gesehen hatte und von dem kaum die Rede war. Als die verwunderte Mutter nachfragte, warum er erstmalig gerade ihn mit ins Gebet einbezog, wiederholte er nur seinen Wunsch, dass dieser Mensch von den Engeln in Obhut genommen werden möchte. Später erfuhr man, dass er in dieser Nacht starb.
 

Malaga, Küste (user rosergoula, Lizenz CC 2.0) Seine unvergessliche Fußreise unternahm er 1920 mit einem Schweizer Freund namens A., der ihn Wochen lang durch Spanien begleitete. A. war ein schweigsamer Eigenbrötler und hatte irgendwann im Stillen beschlossen, die geplante Überfahrt nach Marokko nicht mitzumachen und die gemeinsamen Ziele Kongo, Indien und Java aufzugeben. Die beiden waren zu verschieden, so dass Egon auch nicht ganz unglücklich war über diese Entscheidung.

Nach dem Marsch über die Sierra Nevada im Mai 1921 in der Hafenstadt Malaga angekommen, war A. – ohne Vorankündigung – plötzlich verschwunden, und von der Suche nach ihm ermüdet, setzte sich Egon in eines der Cafés. Von den vielen Tischen waren mehrere frei, er setzte sich wahllos an einen hin. Zu seinem riesigen Erstaunen lag dort ein Zettel mit den Worten: "Lieber Egon, ich habe das Schiff nach Gibraltar genommen und fahre von dort nach Ägypten. Gute Weiterreise. A." Das Rätsel, wie die Mitteilung ausgerechnet auf diesen Tisch in diesem Café kam, blieb für Egon ein Geheimnis. Zwar tauschten sie wegen gemeinsam gelagerter Post noch einmal Telegramme aus, gesehen hat er ihn aber nie mehr wieder...
 

Saint-Tropez, Luftaufnahme, wiki user Starus, creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0 Einige Jahre später war er im Sommer in Saint-Tropez und sah dort einen entfernten Onkel und die dazugehörige Tante mit ihrem Hund um die Ecke biegen. Egon wunderte sich sehr, sie hier zu treffen, hatten sie ihm doch gesagt, in Paris bleiben zu wollen. Er hager und groß, sie klein und rund, ergaben sie ein auffallendes Paar, und dazu noch der unverwechselbare Hund. Er ging freudig auf sie zu, doch die beiden gingen auseinander und als er näher kam, sah er, dass es gar nicht Onkel und Tante waren. Der dünne Lange und die kleine Dicke waren nur zufällig gleichzeitig auf dieser Straßenseite unterwegs und auch der Hund machte einen Schlenker in eine andere Richtung. "Na ja", dachte er, "dann habe ich mich eben geirrt".

Noch über diesen lustigen Zufall sinnend war sein Erstaunen umso größer als er um die nächste Ecke bog. Da kam ihm schon wieder so ein Paar entgegen! Doch diesmal lief bereits der Hund mit dem Schwanz wedelnd auf ihn zu und es gab eine herzliche Begrüßung: es waren tatsächlich seine Verwandten, die ihm erklärten, warum sie trotzdem nach Saint-Tropez gekommen waren. Für Egon war es eine weitere überzeugende Erfahrung von Intuition und Sechstem Sinn, denn wie sollte er sich dies alles sonst erklären?
 

2 – Reis, Reis und nochmals Reis (1938/1940)

Reisschale Als Vietinghoff nach großen Schwierigkeiten alleine aus Südamerika nach Europa zurück kam, besaß er fast nichts, außer einigen eingelagerten Bildern aus der Pariser Zeit sowie ein paar bemalten Leinwänden und Radierungen aus den Jahren in Argentinien und Uruguay. Er fing bei Null an, malte in 1 Rahmen 1 neues Bild und kaufte sich vom Erlös desselbigen 2 Rahmen. Er nahm sich ein kleines Atelier in Zürich, während er im Haus seines Vaters in Zollikon wohnte. Um das Fahrgeld zu sparen, ging er fast täglich die sehr lange Strecke ins Atelier zu Fuß, verbrauchte dabei allerdings ein Paar Schuhe. Später kamen Frau und Tochter aus Argentinien nach, doch nach zwei Jahren wurde die Scheidung vollzogen und er hauste wieder alleine in der Altstadt von Zürich.

Die Einrichtung bestand aus dem Allernötigsten, Kleidungsstücke bewahrte er in einem Koffer auf, der auf dem Boden lag. Darauf stand eine lose elektrische Platte, auf der er in einem größeren Topf gleich eine ganze Packung Reis kochte. Davon aß er, so viel er eben mochte, und wärmte tags darauf den Rest wieder auf, und dies über mehrere Tage bis der Topf leer war. Als er einmal aus dem Hause ging, vergaß er die Platte auszuschalten, die dann Zeit hatte, sich durch den Kofferdeckel sowie durch sämtliche Hemden und den Frack zu brennen. Durch ein enormes kreisrundes Loch in ihrer Mitte waren sie alle unbrauchbar geworden – unnötig zu sagen, was für ein Schaden es damals für ihn bedeutete. Seither bevorzugte er Kartoffeln oder Nudeln.

 

3 – Das Weihnachtsgeschenk (1956)

Von Liane gebundene Bücher Vietinghoffs vierte Ehefrau Liane ist eine nicht nur sportlich sehr aktive Frau, sie besuchte auch Sprachkurse, lernte Klavier spielen, Weben und Bücher zu binden. Um nicht nur zu üben, sondern gleich etwas Vernünftiges zu tun, band sie die großen losen Blätter aus Halbkarton mit den von ihm aufgeklebten Photographien seiner fertigen und schon nummerierten Ölgemälde zu stattlichen Alben. In den folgenden Jahren widmete sie sich mehreren zerfledderten Büchern vorwiegend aus Egons frühen Jahren, die zu seiner damaligen Lieblingslektüre gehörten: Bjørnson, Schopenhauer, Kant, Goethe, Grimmelshausen, Gogol, Tolstoi, Tagore und ein Buch aus der Feder seiner Mutter.

Einmal pro Woche ging sie in den Kurs, bekam Anweisungen und Materialien, die sie dann zu Hause anwendete. Der Tisch im Wohnzimmer wurde geteilt: auf der einen Schmalseite saß er, auf der anderen arbeitete sie. Zum Essen räumte sie ihre Hälfte ab und Egon zog von hüben nach drüben. Während der gemeinsamen Mahlzeit warteten die im Wasserbad schwimmenden oder schon sorgfältig sortierten Briefmarken, denn sie hatten noch einen langen Abend vor sich – Vietinghoff ging damals oft erst gegen zwei Uhr nachts schlafen.
 

Von Liane gebundene Bücher Die Tage wurden kürzer und die Stunden des zum Malen benötigten Naturlichts im Atelier knapper, so dass mehr Zeit für die Briefmarkensammlung und für seine Manuskripte war. Liane hatte sich vorgenommen, einige der Fotoalben bis Weihnachten fertig gebunden zu haben und sie ihm dann zu präsentieren. An vielen Abenden mehrerer Wochen schnitt, schabte, nähte, klebte und presste sie, was durchaus auch mit Gerüchen und Geräuschen verbunden war, manchmal leise mit dem zähen Leder, einem verrutschenden Papier oder der widerspenstigen Zwinge schimpfend.

Egons Horizont war identisch mit dem Lichtkegel seiner Lampe, innerhalb dessen er mit Lupe, Pinzette, Klebefalzen und Spucke Marken aller Länder in Katalogen identifizierte und fein säuberlich in einer wachsenden Zahl anderer Alben unterbrachte. Aktuelle Preise wurden mit spitzem Bleistift hinzugefügt, Massenware in winzigen Päckchen gebündelt.

An Heiligabend übergab ihm Liane ihre individuellen und arbeitsintensiven Geschenke. "Aber, das sind ja die Fotos meiner Bilder!" wunderte sich der Künstler und Markensammler. "Ja, ich habe die einzelnen Blätter zusammengebunden, dann fliegen sie nicht so rum und es sieht besser aus: das ist mein Weihnachtsgeschenk". "Danke dir sehr, das ist wirklich schön! – Aber wann hast du das bloß gemacht?"

Diese Geschichte gründet gewiss in Vietinghoffs unbeschreiblicher Konzentrationsfähigkeit. Manchmal war er allerdings auch nur in seine Gedanken versunken, wenn er gleichzeitig uninteressante alltägliche Notwendigkeiten verrichtete. So stellte er eines Nachts den Milchtopf an den Straßenrand und wunderte sich danach, dass der Mülleimer nicht ins "Milchkästchen" im Hauseingang passte, in dem der Milchtopf hätte deponiert werden sollen, damit ihn der Milchmann morgens in aller Frühe mit frischer Milch fürs Frühstück füllen konnte.
 

4 – Bergidylle (1958)

 Saalbach-Hinterglemm, Tal, wiki user Jacquesverlaeken, CC BY-SA 3.0 Vier Jahre nach seiner Hochzeit mit Liane ließ Vietinghoff sich endlich dazu bewegen, im Sommer mit ihr in die Berge zu kommen. Es war nicht seine Welt, er fühlte sich am wohlsten in flachen Gegenden mit weitem Horizont, so auch am Meer. Nun machte er ihr den Gefallen und auch sein zehnjähriger Sohn freute sich auf diese Ferien. Der Ausgangspunkt mehrerer Wanderungen war Saalbach, ein damals noch unbedeutendes Dorf im Salzburger Land, in ihrer Heimat Österreich. Dort hatte Liane, seine jetzige Frau, als Kind eindrucksvolle Sommerferien auf dem Bauernhof verbracht, der als ehemaliger Jagdhof des Erzbischofs von Salzburg vor vielen Generationen schon bessere Zeiten gesehen hatte.

Saalbach entwickelte sich erst später zum modischen Wintersportort. Die Unterkunft war bemerkenswert schlicht, da die einst bischöflichen Gemächer von anderen Gästen belegt waren. Statt im Speisesaal mochte Liane lieber mit der ihr bekannten Bauernfamilie in der Küche essen, wo man abends Deftiges aus dem gemeinsamen Topf in der Tischmitte löffelte. Liane war darauf aus, Egon die Schönheit der Berge schmackhaft zu machen und ihn an ihren Naturerlebnissen teilhaben zu lassen. "Hinterglemm", der Name des Talabschnitts hinter Saalbach, nährte jedoch schon im Voraus Egons Befürchtungen von Enge, mühseligen Steigungen und düsteren Abhängen. Vorurteile, wie Liane meinte.
 

Auf dem Zwölferkogel bei Saalbach-Hinterglemm (Fotoerlaubnis Dieter Buck) Am 11. August 1958 bestiegen sie in mehreren Stunden ihr markantestes Ausflugsziel, den 1983 Meter hohen "Zwölferkogel". Anfangs noch genüsslich Beeren pflückend, morastigen Mulden ausweichend, dann mit zunehmender Kargheit, Hitze und Höhe mehr auf die Platzierung der Füße achtend.

Einmal glaubte Vietinghoff, die Familie mit einem Knüppel heldenhaft vor einem nahenden Pferd beschützen zu müssen, ein anderes Mal vor einem angeblichen Stier, dessen Gefährlichkeit noch Jahre lang Anlass zu innerfamiliären Diskussionen gab, da das Tier sein Hinterteil im Dunkel eines Stalls versteckte und von Liane als harmlose Kuh bezeichnet wurde. Man muss dem Maler allerdings zugutehalten, dass er durch Erzählungen von Dorfbewohnern über aufgespießte Knechte alarmiert war. Zwischendurch suchte er die Betonsockel der Stützen des damals einzigen (!) Skilifts auf, der in der Sommersaison ruhte, und machte dort Gehbewegungen auf kleinstem Raum, mit dem Ausruf "Wie angenehm es doch ist, die Füße in die Horizontale zu setzen. Das ist doch viel natürlicher!"
 

Österreichische Alpen Auf dem Gipfel aß man die mitgebrachten Brote und trank aus einer ausgemusterten Feldflasche der Schweizer Armee, in der Vietinghoff im Krieg seinen Wachdienst absolviert hatte. Alle waren leicht ermattet, das Ausflugsziel war erreicht. Mit tiefen Atemzügen genoss Liane die Aussicht auf die umliegenden Berge und den Blick ins Tal.

Auch Egon war nachdenklich und still. "Jetzt hat ihn der Zauber der Berge doch auch erreicht", freute sich Liane für sich und fragte ihn nach langer Pause erwartungsvoll: "Na, Schatz, was denkst Du?". Worauf er zu ihrer großen Ernüchterung sinnierte: "Ich stelle mir gerade vor, wie groß Österreich sein könnte, wenn man es bügelte."
 

5 – Das Kolosseum von Rom (1961)

Kolosseum Rom, ca, 1889 (Detroit Publishing Co., Lizenz von Photoglob Zürich) Im Laufe der Jahre fanden Egon und Liane einen Kompromiss ihrer so unterschiedlichen Vorstellungen zur Gestaltung des Urlaubs, die auch nur Ausdruck ihrer oft entgegengesetzten allgemeinen Lebensbedürfnisse waren. Das Agreement hielt solange wie gemeinsame Reisen unternommen wurden: weite Reisen per Vespa und Auto mit Mittagspicknick an lauschigen Orten, Spaziergang in der Landschaft oder Nickerchen im Schatten antiker Gemäuer, Besuche von Sehenswürdigkeiten und Museen, begrenzter Aufenthalt in Großstädten, abends Zuschauen vorbeiziehender Menschen im Café auf dem Corso oder belebten Plätzen und mindestens eine Woche Unterbrechung zum Baden an einer Küste oder auf einer Insel. So wurde vor allem West- und Südeuropa sowie die Türkei durchquert.

Das Gegenstück zu Egons Verschleppung in die Berge fand am 29. Juli 1961 in Rom statt als er seinerseits Liane wichtige Stationen seiner Jugend zeigen wollte. Die beiden fuhren zwar nicht das erste Mal nach Italien, aber in der "ewigen Stadt" war er besonders in seinem Element, klimatisch, sprachlich, kulturell und kulinarisch, während Liane wegen des massiven Straßenlärms und der Abgase sich schon am Rande eines Nervenzusammenbruchs befand. Er selbst kannte Rom erstmalig von einer Reise als Kind, in einer Zeit als die Familie noch Geld hatte und Eltern, zwei Kinder einschließlich Gouvernante mit großen Schiffskoffern unterwegs waren und sich für Tage oder Wochen in einer Suite des Fünfsterne-Hotels "Regina" an der Via Vittorio Veneto standesgemäß einquartierten.

Danach war er mehrmals mit Marcella in dieser ihrer Geburtsstadt, nicht zuletzt um sie dort auch zu heiraten. Wie oft er dort war, ist nicht mehr zu rekonstruieren, gesichert sind seine Besuche in Rom jedoch 1911, 1928 und 1929, also über 30 bzw. 50 Jahre davor. Später, in den Sechziger- und Siebzigerjahren, war er wenigstens noch zwei Mal in der italienischen Kapitale.

Nachdem er mit Liane in brütender Hitze durch den unablässig hupenden Autoverkehr schon Stunden lang über den Quirinal und das Forum Romanum gegangen war, schlug er ihr vor – um sie zu beruhigen – gegen Abend am Stadtrand das Kolosseum zu besichtigen. Er tat dies mit einer abwinkenden Handbewegung und den Worten: "Da kommt nur ab und zu mal eine Droschke vorbei". Für diejenigen, die Rom nicht kennen, sei hinzugefügt, dass schon in dieser Zeit der Stadtrand ganz wo anders lag und das Kolosseum seine urbane Aufgabe als Insel im Kreisverkehr erfüllte: als sei es das Auge des Taifuns nahm es mit monumentaler Ruhe den tosenden Strom der Fahrzeuge in sechs Spuren auf und lenkte ihn in andere Richtungen um.

Dass die Zeit nicht stehen geblieben war, registrierte er übrigens 1964 auch in Spanien, als er Liane einen ähnlichen Vorschlag machte, zur Entspannung den legendären Palmenhain von Elche aufzusuchen, der dem Ort sogar den Beinamen "Spanisches Jerusalem" eingebracht hatte. Nach längerem Herumfahren fanden sie ein Restgrüppchen von etwa einem halben Dutzend Palmen im Kreuzungsbereich verschiedener Ausfallstraßen.

Seither war seine Frau äußerst skeptisch gegenüber solchen Angeboten, die gelegentlich mit den Worten eingeleitet wurden: "erst vor kurzem noch ...". Hakte man etwas nach, stellte sich oft heraus, dass Vietinghoff, der in historischen Dimensionen dachte, damit nicht selten eine Zeitspanne von 30, 50 oder sogar 100 Jahren bemaß.

 

6 – Teestunde (ca. 1965)

Blümchen mit Moos In kleiner Runde wird zu Hause schwarzer Tee getrunken. Zwischen den Tassen ein kleines Arrangement mit Blümchen und Zweiglein, das Liane nach einem ihrer Ausflüge liebevoll zusammenstellte. In einer Pause des sonst lebhaften Gesprächs entnimmt Vietinghoff der Flora ein Stück zäher Baumflechte, steckt sie sich in den Mund, kaut darauf herum und fragt in die Runde: "Was ist das?". Die Anwesenden heben verdutzt ihre Augenbrauen und wissen zuerst einmal nicht, ob er etwa selbst das Opfer seiner Naivität oder einer nicht nachvollziehbaren Wissenslücke ist, oder ob alle anderen ihrerseits gerade das Opfer seines Schalks werden. "Was ist das?" wiederholt er. Diesmal lässt die Veränderung der Stimme ahnen, dass er Schabernack im Sinne hat. Natürlich weiß keiner, worauf er hinaus will. "Moos-kau!" enträtselt er triumphierend und muss aufpassen, dass er – selber prustend vor Lachen – sich am Objekt nicht verschluckt.

 

7 – Die Sonnenfinsternis (1966?)

Sonnenfinsternis Zeitlich nicht mehr ganz sicher zu rekonstruieren, ist der 20. Mai 1966 das wahrscheinlichste Datum folgender Begebenheit. Noch am Vorabend wurde beim Essen von der bevorstehenden Sonnenfinsternis gesprochen, die zwar nur partiell zu sehen war, aber dennoch ein gewisses Ereignis darstellte. Kurz zuvor hatte der Gärtner der Siedlung die Büsche vor dem Atelierfenster, das im Erdgeschoss lag, routinemäßig gestutzt. Die Blätter hatten das Tageslicht nicht mehr genügend durchgelassen. Am besagten Tag, der ohnehin kein strahlender Sonnentag war, kam Vietinghoff verärgert und frühzeitig nach Hause. "Ich verstehe nicht, warum es heute im Atelier so düster ist. Ich konnte kaum malen. Sag doch bitte dem Gärtner, er solle die Büsche noch einmal kräftig zurück schneiden. So kann ich jedenfalls nicht arbeiten." Er erntete schallendes Gelächter, in das er mit einstimmte, nachdem er an das Himmelsereignis erinnert wurde.
 

8 – Der Toaster (undatiert)

Der Toaster Die Liebe zum Toast war stets von Aufregungen, sei es Ärger oder Amüsement, begleitet. Es gab kaum ein geröstetes Brot, das mit Honig oder am liebsten mit Quittengelee bestrichen werden sollte, das nicht bis zu einem gewissen Grade oder manchmal auch total verkohlte. Wie oft vergaß Vietinghoff seine Absicht und machte es sich – gerade aus dem Atelier nach Hause gekehrt – zuerst einmal in seinem Sessel gemütlich, bis aus der Küche ein beißender Geruch drang. Manchmal wunderte er sich noch eine Weile über die Kochkünste der Nachbarn, manch-mal schreckte er auch gleich jäh auf, und schoss zum Tatort, um das Fenster aufzureißen und die schwarzen Stellen des Corpus delicti abzuschaben oder gleich eine neue Scheibe einzulegen.

Natürlich hätte er es sich längst leisten können, ein modernes Gerät mit automatischem Auswurf zu erstehen, doch erstens war dieses museale Stück, das jede nostalgische Ausstellung über die Dreißigerjahre des 20. Jh. bereichert hätte, ja noch funktionstüchtig und zweitens befand seine Frau die Küche als zu klein für ein weiteres „Möbel“. Drittens waren beide dem Konsumdenken grundsätzlich abgeneigt: die Dinge wurden nicht einfach weggeworfen und neu gekauft. Schließlich lag es ja auch nicht am Gerät, denn man musste ja "nur ein bisschen" aufpassen. Diese Aufmerksamkeitsübung des Alltags hatte jedoch so manche Tücke und Vietinghoff, sonst so achtsam und konzentriert, schaffte es ausgerechnet dabei auch über Jahrzehnte nicht, diese Situation auf Anhieb zu meistern.

Der prozentuale Anteil des Ungenießbaren am Ganzen hing u.a. davon ab, ob Vietinghoff im Wohnzimmer oder außerhalb der unmittelbaren Riechweite auf dem Balkon saß oder gar in die Stadt gegangen war... Und auch davon, ob er nur seinen Gedanken nachhing oder sich mittlerweile z.B. in seine Markensammlung vertieft hatte. Ungutes ahnend und aus Erfahrung klug, setzte er sich gelegentlich sogar direkt daneben, um den Röstprozess im Auge zu behalten. Die Heizdrähte brauchten anfangs länger und kritisch wurde es erst, wenn diese einige Zeit voll glühten und das Brot schon eine gewisse Trockenheit erreicht hatte. Deshalb gelang auch solcherlei Selbstüberlistung selten, denn die langweilige Wartezeit bis zum entscheidenden Punkt überbrückend überflog er wenigstens schnell mal die Zeitung – und schon fing es dicht neben ihm wieder an zu qualmen! Es war schon fatal!

Kurzum, die Anhänglichkeit an diesen Oldtimer, die von seiner Witwe posthum weiter gepflegt wurde, und die Macht der Gewohnheit (selbst die der Brotverbrennung) war für Außenstehende von etwas Irrationalem umwittert. Und so wurde familienintern der Toaster im Laufe der Zeit nur noch der „Kohler“ genannt.

 

9 – In einem belgischen Restaurant (1967?)

Belgien - Guten Appetit in vielen Sprachen (agracier - NO VIEWS, CC BY-SA 3.0) Auf einer Reise durch Belgien saßen wir in einem Restaurant, wo die Tische sehr nahe neben einander standen. Egon bestellte auf Französisch, seiner Mutter-Sprache im wahrsten Sinne des Wortes; wir unterhielten uns auf Deutsch. Neben uns saßen zwei Französisch sprechende Männer; der Abstand zwischen uns war höchstens 1 Meter, sodass man gezwungenermaßen mitbekam, worüber gesprochen wurde.

Einer sagte zum anderen: "sie sprechen Deutsch" und da Egon ihre ganze Konversation verstand, wechselten sie zu Niederländisch. Um sie zu verwirren, bestellte Egon den Kaffee auch in Niederländisch (seine Großmutter war ja Holländerin), worauf die Tischnachbarn zu Italienisch übergingen. Wir unterhielten uns weiter auf Deutsch und die beiden anderen fühlten sich nun in Sicherheit.

Jedoch: Egons erste Frau war Italienerin und er hatte schon vor seiner Heirat einige Zeit in Italien gelebt. Um hinaus zu gehen, musste er von der Bank an der Wand aufstehend, sich am Tisch der anderen vorbeizwängen und sagte zu ihnen auf Italienisch: "Entschuldigung, es ist etwas schwierig, vorbei zu kommen." Da guckten die beiden recht verlegen.

Es hätte ihnen auch nichts genützt, noch auf Spanisch weiter zu reden, sofern sie dieser Sprache mächtig gewesen sein sollten. Vietinghoff sprach fünf Sprachen gut und etwas Englisch, ohne sich damit zu brüsten. Er hatte in dieser Situation jedoch ein spitzbübisches Vergnügen, sein Sprachregister zu ziehen und die anderen Gäste zu verblüffen.
 
     
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Jeanne von Vietinghoff, die Mutter